Macht uns ständige Erreichbarkeit im Beruf krank?

- In der Welt der modernen Technologien verschwimmen die Grenzen zwischen Beruf und Freizeit immer mehr. So schaffen es fast 20% der 30- bis 44-Jährigen nicht mehr, im Urlaub von der Alltagsroutine abzuschalten. Ein Viertel aller Arbeitnehmer liest oder beantwortet mindestens einmal wöchentlich arbeitsbezogene E-Mails außerhalb der regulären Arbeitszeit. Im Durchschnitt kommen so 26 unbezahlte Minuten am Tag zusammen. Laut Erhebungen der Northern Illinois University vermindert dies den Erholungswert der Freizeit und wird von vielen Arbeitnehmern als belastend empfunden.Einige Unternehmen schalten deshalb inzwischen ihre Server am Wochenende ab. Doch führt die ständige Erreichbarkeit tatsächlich zu einer Zunahme an körperlichen und psychischen Erkrankungen wie beispielsweise Depression und Burnout?

Permanente Erreichbarkeit im Arbeitsleben

Werden in der Freizeit arbeitsbezogene Telefonate geführt oder E-Mails beantwortet, spricht man von einer sogenannten „erweiterten“ Erreichbarkeit. In Abgrenzung zu regulären Überstunden wird diese Kommunikation meist nicht bezahlt. Laut einer Befragung der Deutschen Angestelltenkrankenkasse (DAK) unter 3000 Beschäftigten werden E-Mails generell als weniger belastend empfunden als Telefonate. Fast die Hälfte der Befragten fühlt sich durch Telefonate gestresst, 6% bewerten diese sogar als starke Belastung.

Andererseits wird die ständige Erreichbarkeit von vielen Beschäftigten auch positiv wahrgenommen. Die Zunahme an Flexibilität und der eigene Statusgewinn werden dabei als bereichernde Faktoren genannt und daher auch in der Freizeit in Kauf genommen.

Stress ist nicht gleich Stress

Erklären lässt sich diese Ambivalenz vor allem mit zwei sozialmedizinischen Modellen, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Arbeit und Stress beschäftigen. Dabei wird Stress in den positiv wahrgenommenen Eustress und den belastenden und krankmachenden Disstress eingeteilt.

Das Anforderungs-Kontroll-Modell nach Karasek beschreibt das Verhältnis zwischen Anforderungen an den Beschäftigten, seinen Handlungsspielraum und den daraus resultierenden arbeitsbezogenen Stress. Es sagt aus, dass eine Beschäftigungsart die Gesundheit am wenigsten beeinträchtigt, bei der die Beschäftigten viel Kontrolle über ihre eigenen Tätigkeiten und Zeiteinteilung ausüben, selbst, wenn sie eine große Verantwortung und hohe Arbeitsbelastung haben. Bei dieser Personengruppe wird der Stress eher als Eustress wahrgenommen. Im Kontrast dazu stehen Arbeiten, die hohe Anforderungen an den Arbeitnehmer stellen, ihm jedoch nur wenig Handlungs- und Gestaltungsspielraum lassen, mit Disstress in Verbindung und wirken sich besonders negativ auf die Gesundheit aus.

Das Modell der beruflichen Gratifikationskrisen nach Siegrist postuliert, dass ein steigendes Maß an beruflichen Anforderungen potentiell mit größerem Disstress einhergeht, wenn ein Ungleichgewicht zwischen Leistung und Be- beziehungsweise Entlohnung besteht. Formen der Belohnung oder Gratifikation sind zum Beispiel ein angemessenes Gehalt, weitere Prämien, Arbeitsplatzsicherheit, soziale Anerkennung sowie entsprechende Weiterentwicklungs- und Karrierechancen. Liegt in den Augen des Beschäftigten ein Ungleichgewicht zwischen Leistung und der Entlohnung vor, kann eine Gratifikationskrise resultieren, die zu chronischem und gesundheitsschädigendem Stress führen kann.

Die Bewertung der dienstlichen Kommunikation in der Freizeit unterscheidet sich von Person zu Person. Menschen, die durch eine erweiterte Erreichbarkeit berufliche oder finanzielle Vorteile erfahren und darin eine Zunahme an Flexibilität und Vielfalt des eigenen Aufgabenbereichs sehen, fühlen sich durch sie weitaus weniger belastet. Beschäftigte, die sie hingegen als weiteren Kontroll- und Autonomieverlust sehen, bewerten eine erweiterte Erreichbarkeit häufig als belastend und können negative gesundheitliche Folgen davontragen.

Macht uns die ständige Erreichbarkeit krank?

Entsprechend ambivalent ist die Studienlage zu diesem Thema. Zwar kommt es den meisten Studien zufolge durch eine erweiterte Erreichbarkeit häufiger zu Konflikten zwischen Arbeits- und Privatleben, hingegen herrscht Uneinigkeit darüber, ob Depressionen, Burnout und weitere Erkrankungen tatsächlich signifikant mit der arbeitsbezogenen Kommunikation in der Freizeit korrelieren. Unklar ist auch, inwieweit Drittfaktoren wie etwa die Arbeitszeit das Outcome beeinflussen. Daher kann bisher keine valide Aussage darüber getroffen werden, inwieweit eine erweiterte Erreichbarkeit für Beschäftigte tatsächlich gesundheitsschädigend ist.

 

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