Was ist dran am Adipositas-Paradoxon?

- Das sogenannte Adipositas-Paradoxon ist seit der Jahrtausendwende Bestandteil kontroverser Diskussionen. Vielfach beobachtet, besagt dieses Phänomen, dass Übergewicht bei bestimmten Erkrankungen protektiv wirken und die Lebenszeit verlängern kann. Doch halten diese Beobachtungen einer kritischen Betrachtung stand?

Der Begriff „Adipositas-Paradoxon“ wurde erstmals im Jahr 2002 in einer medizinischen Publikation verwendet. US-amerikanische Forscher des Cardiovascular Research Institute in Washington DC beschrieben darin ihre Beobachtungen bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit. Entgegen ihrer ursprünglichen Annahme kamen sie zu dem Ergebnis, dass übergewichtige und adipöse Patienten ein deutlich niedrigeres Risiko hatten innerhalb eines Jahres nach einer Gefäßintervention zu versterben als Normalgewichtige. 

Ähnliche Ergebnisse konnten in den Folgejahren auch durch andere Studien bei Patienten mit Herz-, Stoffwechsel -und Tumorerkrankungen reproduziert werden. Damit stehen diese Beobachtungen im Gegensatz zu der aktuellen Lehrmeinung, wonach Übergewicht ein entscheidender Risikofaktor bei der Entstehung einer Vielzahl von Erkrankungen ist und ihren Verlauf negativ beeinflusst. 

Die Befürworter argumentieren unter anderem, dass übergewichtige Menschen größere Energiereserven besitzen, die vor allem bei zehrenden Erkrankungen, wie Tumorleiden von Vorteil sein könnten. Ebenso sollen höhere Blutfettwerte protektiv wirken, da sie bakterielle Gifte binden und neutralisieren können und zusätzlich die Synthese der entzündungshemmenden Steroidhormone fördern. Darüber hinaus schützen Fettdepots gerade ältere Menschen vor Knochenbrüchen bei Stürzen und können so ihr Mortalitätsrisiko senken. Ein weiteres Argument besagt, dass übergewichtige Personen bereits frühzeitig intensiv medizinische betreut und überwacht werden, wodurch sich ihre Prognose im Vergleich zu Normalgewichtigen verbessern könnte.

Kritiker sehen das Adipositas-Paradoxon als Ergebnis von Verzerrung und Fehlinterpretation. Sie führen an, dass es vor allem in Beobachtungsstudien gezeigt werden konnte, bei denen auf Grundlage von Datenerhebungen zum Gesundheitszustand und Lebensstil Rückschlüsse auf das Erkrankungsrisiko, Krankheitsverläufe und die Mortalität gezogen wurden. Dabei kann es jedoch zu einer Verwechslung von Ursache und Wirkung kommen. So treten Gewichtsverlust und Kachexie vor allem im fortgeschrittenen Stadium vieler Erkrankungen auf. Zu Beginn einer Beobachtungsstudie könnten Patienten beispielsweise normalgewichtig sein, weil es bei ihnen bereits zu einer krankheitsbedingten Gewichtsabnahme kam. Der Überlebensvorteil von Übergewichtigen kann sich demnach daraus ergeben, dass sie zum Zeitpunkt der Datenerhebung im Durchschnitt gesünder sind als die Normal- und Untergewichtigen. Ebenso wird der Body-Mass-Index häufig als Maß des Ernährungszustandes verwendet. Da er ausschließlich auf dem Körpergewicht und der Größe basiert, liefert er nur ungenaue Informationen über den Ernährungszustand. So findet in ihm die Körperzusammensetzung keinerlei Repräsentation. Eine gesunde Person mit großer Muskelmasse -und normalem Fettanteil kann gemäß BMI als übergewichtig identifiziert werden, wohingegen eine Person mit bereits einsetzendem Muskelschwund bei erhöhtem Fettanteil noch als normalgewichtig gelten kann.

Seit einigen Jahren wird das Adipositas-Paradoxon in immer mehr Studien widerlegt. Dies gilt vor allem für Untersuchungen, die nicht nur den BMI, sondern auch weitere Parameter zur Einschätzung des Ernährungszustandes, wie beispielsweise der Bauchumfang und das Taille-Hüft-Verhältnis einbeziehen. Demnach erhöhen Übergewicht und Adipositas vielfach das Erkrankungsrisiko. Ebenso konnte in einigen Studien gezeigt werden, dass übergewichtige Patienten keinen Überlebensvorteil haben, sondern im Durchschnitt früher erkranken als Normalgewichtige.

Nach aktuellem Kenntnisstand kann Übergewicht keine pauschal protektive Wirkung zugesprochen werden, auch wenn dies im Einzelfall zutreffen mag. So könne leichtes Übergewicht beispielsweise bei Tumorpatienten vor einer Chemotherapie Vorteile mit sich bringen, da es den häufig auftretenden therapiebedingten Gewichtsverlust ausgleichen kann. 

Grundsätzlich gilt es jedoch, Normalgewicht anzustreben, um sein persönliches Krankheitsrisiko zu senken. Auch führende Fachgesellschaften geben im Krankheitsfall Normalgewicht meist als Ziel an, raten bei Übergewicht und Adipositas jedoch von einer forcierten Gewichtsabnahme ab. 

Zusammengefasst ist das Adipositas-Paradoxon nach heutigem Stand der Wissenschaft nur scheinbar paradox und dürfte als widerlegt gelten.

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